Die Winterreise der Kraniche

Ein Brief aus der Uckermark.

Beate Blahy ist Vorsitzende des UNESCO-Club Joachimsthal mit dem Schwerpunkt „Leben und Arbeit im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin“. Das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin ist eines von weltweit 727 UNESCO-Modellregionen, in denen, gemäß dem UNESCO-Programm "Der Mensch und die Biosphäre" (MAB), das Leben und Wirken des Menschen mit der Natur dazu beitragen soll, die gewachsene Kulturlandschaft zu schützen und nachhaltig weiterzuentwickeln.

 Diesmal hat sich Beate Blahy auf eine Reise nach Spanien begeben, um „ihre“ Kraniche im Winterquartier zu besuchen. Was sie dort an Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen von Kranichen beobachtet, stimmt traurig und nachdenklich. Und es erinnert an zunehmend schwierige Überlebensbedingungen der Kraniche auch in ihrer Heimat Brandenburg.

 

„Für vier Tage verabschiede ich mich, reise in die Extremadura in Spanien, dorthin, wo unsere wilden Kraniche jetzt, im Winter, ihren Aufenthalt haben. Sie sind dort, weil es da die Dehesas gibt, parkartige Landschaften, in denen locker verstreut, wie zufällig gewachsen, Steineichen stehen. Dehesas sind Kulturlandschaften durch und durch, ihre Entstehung verdanken sie dem wirtschaftenden Menschen, der bereits vor vier Jahrtausenden die ursprünglichen Primärwälder vernichtete. Die Stein- und Korkeichen, die langsam, nach und nach wieder aufwuchsen, sind heute Hutewälder, unter ihnen weiden Schafe, Schweine und Rinder. Und Kraniche! Denn sie ernähren sich in den Wintermonaten hauptsächlich von den herabgefallenen Steineicheln, den Bellotas. Die teilen sie sich mit den Schafen und Schweinen. Die Bauern der Region dulden sie, vielfach freuen sie sich über die Anwesenheit der „Vögel des Glücks“, denen sie im Dezember, wenn große Kranichzüge aus dem hohen Norden bei ihnen ankommen, Festtage widmen und ihre Rückkehr fröhlich feiern. Das lernen dort schon die Kinder.

Schon oft bin ich dort gewesen. Immer hat mich die Landschaft bezaubert, in ihrer Ruhe, ihrer Gelassenheit, der Stille, in der nur die Glocken der weidenden Schafe zu hören sind. Und dann die Kranichrufe, wenn sie einfallen am Morgen auf ihrer Weide unter den Eichen landen und eifrig nach den Eicheln suchen. Sie zeigen es ihren Jungen, wie man es anstellt, die harte Schale zu öffnen, um ans Innere zu gelangen.

Kraniche überfliegen Grenzen, ohne sie bemerken, ihre Grenzen setzt allein die Natur, ein Sturm, ein Kälteeinbruch, ein Temperatursturz mit heftigen Winden. Und es sind die Menschenbauwerke, die gefährlich werden, die den Vögeln Hindernisse in den Weg setzen, wo früher keine waren. Vor allem hohe Überlandleitungen gefährden die Flieger, aber auch Zäune können lebensgefährlich werden. Unterwegs sehe ich, dass die Dehesas immer mehr zusammenschrumpfen. Man reißt die Eichen aus und pflanzt an ihrer statt Oliven – das bringt mehr Geld. Sie werden mit Pestiziden behandelt und bewässert, in einem trockenen Land. Der Boden wird aufgerissen, jede Vegetation wird entfernt, die Oliven stehen fremd im Substrat. Oder es stehen nun gar keine Bäume mehr da, der Boden, steinig, rot und karg, wird mit Weizen oder anderem Getreide bestellt. Die Europäische Union honoriert das, es gibt Gelder dafür. Weiß die Europäische Union nicht, dass sie das Kulturerbe der Region mit ihren Geldgaben zerstört? Oder ist es ihr gleich?

Jetzt, im Januar, ist es noch feucht auf den Wiesen und Feldern, aber im Sommer, wenn kein Regen mehr fällt, verdorrt das ganze Land. Die schattenspendenden Bäume werden dann fehlen. Ich verstehe nicht, wie ein Land sein kostbares Kulturgut sehenden Auges zerstören kann um den kurzfristigen Gewinn. Was wird kommen, wenn die Felder unfruchtbar und verdorrt sind? Dann können auch die Bäume nicht wieder aufwachsen. Und wie werden die nachkommenden Generationen unser Handeln bewerten, wenn sie beim Stöbern in alten Büchern und Filmen entdecken, was für ein natürliches Paradies ihre vertrocknete Steppe einst war, und wenn klar wird, wer es zerstört hat?

Endlich kommen wir am Ziel an, ein kleines Landhaus, Bleibe für die nächsten drei Tage, inmitten alter Steineichen, die beiden ältesten haben schon mehr als 500 Sommer gesehen. Manolo, der das Land besitzt, liebt sie und pflanzt neue, selbst gezogene junge Steineichen in die Lücken, die das Alter gerissen hat. Ihm ist egal, ob Oliven mehr einbringen, ihm ist die Landschaft von größtem Wert, sie soll ihr Gesicht behalten, so wie es über tausende Jahre war und Mensch und Tier genährt und erhalten hat. Er kennt alles, was in den Dehesas lebt, die Orchideen, die Frühlingsnarzissen, die Ginsterkatzen, den Pardelluchs, die Geier, die Adler, die Wiesenweihe, die Blauelstern – und vor allem: die Kraniche, seine Wintergäste. Wir wissen, dass wir beide uns völlig einig sind im Respekt vor der Natur und der Liebe zu ihr. Ich kann nicht viel Spanisch, Manolos Englisch ist mangelhaft, aber das hindert uns nicht, einander zu verstehen. Stolz zeigt er mir seinen gut gepflegten Garten, der auch im Winter Gemüse liefert, das Klima macht’s möglich. Er ist eingezäunt, sonst hätten die umherziehenden Schafe wohl kein Hälmchen übriggelassen.

Das Land sieht aus, als würde alles von selbst entstehen, wachsen, vergehen, dabei ist auch hier menschlicher Einfluss der alles entscheidende Faktor. Mir fällt die bis auf den Boden abgenagte Vegetation auf. Schafe überweiden das Land, viel zu viele für den armen Boden. Aber da noch vielfach das Prinzip der Allmende wirkt, ist es schwer, zu verbieten, zu begrenzen. Nur der landestypische Ginster (Retama sphaerocarpa) ist allgegenwärtig, gedeiht gut und erträgt Hitze und Dürre ohne Klage. Ihn essen die Schafe nicht, und so stehen seine Büsche dicht, wo das Licht den Boden erreicht, wo Bäume schon fehlen. In wenigen Wochen wird er blühen, und die Dehesas werden gelb strahlen.

Mit Manolo teile ich die gleichen Empfindungen: eine starke Liebe zu diesem wilden Land, und die große Angst darum, dass ihr Wesen keinen Bestand haben wird in der fortschreitenden Veränderung. Seine kleine Heimatstadt leidet unter dem Weggang der Jugend. Junge Menschen gehen in die Städte, haben keine Lust, sich abzuplagen mit anstrengender Landarbeit, nur um ein Landschaftsbild zu erhalten. Köhlerei, Steineichen verschneiden, Schafe und Schweine hüten – das ist heute nicht mehr angesagt. Um die Schweine kümmern sich Tagelöhner aus Nordafrika, denen es eigentlich gegen die Ehre geht, sich mit so niedrigem Vieh abzugeben, denn sie sind Moslems und verachten die Tiere. Aber was will man machen… In den Städten schlägt der Puls der Moderne, dahin zieht es die Jugend, da kann man erleben, was das Land nicht bietet. Die Einwohnerzahl in der Kleinstadt hingegen sinkt. Zwei Hotels haben bereits geschlossen, zu wenig los hier. In der Serena, der weiten Ebene, hat sich die Neuzeit schon eingenistet. Riesige Photovoltaik-Freiflächenanlagen haben ihre Paneele ausgebreitet, täuschen Vögeln Wasserflächen vor in dem trockenen Land. Damit wird nun Geld verdient. Drei Tage sind windschnell verflogen, und wir eilen zurück, nach Madrid zu einem monströs riesigen Flughafen, der jedes menschliche Maß vermissen lässt. Die beunruhigenden Bilder einer langsam schwindenden Landschaft, die in vollkommenem Gleichgewicht war, nehme ich mit und bin traurig. Und ich frage mich, wie lange wohl unsere wandernden Kraniche noch ein sicheres Winterquartier dort finden werden, in der Extremadura Spaniens.“

Beate Blahy 24.1.2023